Flussfahrt
(nach Erinnerungen von Rainer Glahe)
Wenn früher eine Hausschlachtung durchgeführt
werden sollte, dann musste das so genannte
Schlachtegeschirr in der Regel wenige Tage vor dem
Schlachtefest bei demjenigen abgeholt werden, der
zuletzt geschlachtet hatte.
So wurden dann der Holztrog, die Schlachtebank, der
Wursttisch sowie verschiedene andere Werkzeuge wie
Wurstmaschine, Krummstock, Mollen und Kellen in der
Woche vor dem Schlachtetag mit einem Schlitten oder
Handwagen nach Haus geholt und auf dem Grundstück
(in der Regel auf dem Hof oder hinter dem Haus)
abgestellt.
Mitte der 1960er Jahre hatten vier Jungen aus dem
Oberdorf die Idee, bei Dunkelheit den Schlachtetrog vom
Grundstück Müller im Unterdorf "auszuleihen"
und diesen an der flachen Böschung direkt neben der
Schwülmebrücke im Mühlenweg zu Wasser zu
lassen, um damit eine Fahrt auf der Schwülme zu
unternehmen.
Das Vorhaben verlief zuerst auch nach Plan, doch in den
Wiesen zwischen Hettensen und Lödingsen, wo die
Schwülme stark mäandriert hatte und das Wasser
eher seicht war, steckten die Jungs mit ihrem "Kahn" in
einer der Biegungen fest.
Da sie es nicht schafften, den Holztrog aus der
Schwülme zu heben, mussten sie wohl oder übel
nach Haus, dort "zu Kreuze kriechen", von ihrem Malheur
erzählen, und um Hilfe bitten.
Nachdem der Schlachtetrog wieder bei Familie Müller
abgeliefert war, und die Jungen sich in Beisein ihrer
Eltern bzw. Großeltern in aller Form entschuldigt
hatten, wurden ihnen dann zu Haus kräftig die
Leviten gelesen.
Hausschlachter Albert Heese bei
einer Schlachtung in Lödingsen
Foto: Reinhard Heese
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Polizeistreife im Ort
(nach einer Erzählung von Manfred
Wienecke)
Die Polizeistation Hardegsen ist Ende der 1950er Jahre
mit einem Dienstfahrzeug der Marke BMW Isetta
ausgesrüstet worden.
Das nur 350 Kilogramm schwere zweisitzige Fahrzeug war
lediglich mit einer aufklappbaren Fronttür
ausgestattet.
Einer der Hardegser Gendarmen war zu Beginn der 1960er
Jahre mit seiner Isetta in Hettensen unterwegs.
Nachdem er die dienstlichen Angelegenheiten
offensichtlich erledigt hatte, betrat er das Gasthaus
Zur Post. Im Obergeschoss des Hauses wohnte ein Kollege,
der in der Polizeistation Adelebsen seinen Dienst
versah.
Jugendliche, die bereits aus der Schule zu Haus waren,
hatten den Polizisten beobachtet, als er die Tür
des Gasthauses geöffnet und das Gebäude
betreten hatte.
Schnell war die Idee geboren, dem Ordnungshüter
einen Streich zu spielen.
Die Jungen stellten die Isetta direkt an die Hauswand
der Gastwirtschaft, so dass die Tür des Autos nicht
mehr geöffnet werden konnte.
Als sich der Gendarm nach geraumer Zeit vor der Tür
des Gasthauses von Gastwirt Brede verabschieden wollte,
wurde das Malheur deutlich. An die Heimfahrt mit seinem
Dienstfahrzeug war vorerst auf keinen Fall zu denken.
Carl Brede rief ein paar größere Jungen;
Halbstarke, wie man zu jener Zeit zu sagen pflegte, die
dem Polizisten dann aus der misslichen Situation halfen,
indem sie die Isetta wieder so auf die Parkfläche
stellten, dass der Einstieg möglich war.
Polizeifahrzeug BMW Isetta
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Die Generalversammlung
(erzählt von Hans-Hermann Berger)
Es ist üblich, dass die Generalversammlung
(Jahreshauptversammlung) der Freiwilligen Feuerwehr im
Januar stattfindet.
Da fast alle Bewohner des Dorfes Mitglied der Wehr sind,
wird die Jahreshauptversammlung in der Regel sehr gut
besucht, zumal auch Freibier ausgeschenkt wird.
Der Bürgermeister ist natürlich auch zugegen
und er nutzt die Gelegenheit, sich im Rahmen dieser
Veranstaltung für das Engagement der aktiven
Feuerwehrkameraden zu bedanken..
Bei der Generalversammlung im Januar 1961 kündigt
dieser an, dass der Landkreis Northeim der Wehr eine
größere Geldspende zukommen lassen will, da
in wenigen Wochen das 50-jährige Bestehen der
Freiwilligen Feuerwehr Hettensen im Gasthaus Zur Post
gefeiert werden soll.
Diese Aussage stimmt die Anwesenden überaus freudig
und so klingt die Versammlung mit einem
größeren Trinkgelage aus.
Deutlich nach Mitternacht, die Straßenbeleuchtung
hat sich inzwischen ausgeschaltet, tritt der
Bürgermeister ein wenig wankend den Heimweg an.
Noch vor der Schwülmebrücke in der Friwoler
Straße nimmt er einen Lichtschein wahr, auf den er
geradewegs zumarschiert. Er staunt nicht schlecht, als
er plötzlich ins Leere tritt und im eiskalten
Wasser der Schwülme landet.
Seine Hilferufe „To Hülpe, to Hülpe, eck
versupe“ werden von Bäckermeister Hermann
Fuß sen. gehört, der bereits in der Backstube
mit den Vorbereitungen für das Backwerk des
nächsten Tages beschäftigt ist.
Der Bäcker tritt vor die Tür, folgt den
wiederholten Hilferufen, und zieht schließlich den
völlig durchnässten Bürgermeister aus dem
glücklicherweise nur wenig Wasser führenden
Bach, so dass dieser -weitgehend unverletzt- den Heimweg
fortsetzen kann.
Anmerkung:
Das Licht, auf das der damalige Bürgermeister
zugegangen war, schien aus der Backstube der
Bäckerei Fuß in die Nacht.
So musste der direkte Weg auf diesen Lichtschein zu
zwangsläufig in der Schwülme enden, da die
Straße zur Brücke hin bekanntlich noch einen
deutlichen Bogen nach rechts macht.
Die mit Sandsteinen gemauerte Einfassung des Bachlaufes
war zu jener Zeit übrigens nur von geringer
Höhe, so dass der „Absturz“ für
unseren damaligen Bürgermeister so glimpflich
ausgegangen ist.
Hans-Hermann Berger ist der Großsohn des
Bürgermeisters, dem dieses Missgeschick widerfuhr.
Bäckerei Hermann Fuß und Sohn (ca.
1955)
Foto: Hermann Fuß
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Schlachtetag
(erzählt von Rainer Glahe)
Um die nachfolgende Anekdote zu verstehen, muss man
wissen, dass es früher durchaus üblich war,
Personen mit so genannten Spitznamen zu bennen.
Dies war zum Teil der Tatsache geschuldet, dass manche
Famliennamen im Ort häufiger vorkamen und dass es
oft üblich war, dem Sohn denselben Vornamen zu
geben, den dessen Vater auch schon trug.
So dienten diese Spitznamen mitunter auch der
Unterscheidung von Personen. Andere solcher Namen waren
teilweise in etwas unglücklichen Situationen
entstanden.
Der damlige Fleischbeschauer wurde zum Beispiel mit dem
Namen "Spritz" gerufen.
Der Ehemann der Dame, die den Konsum betrieb,
bewirtschaftete mit seinem HOLDER-Schlepper einen
kleinen landwirtschaftlichen Betrieb; er war im Dorf
auch als "Kare" bekannt.
Im Winter 1967/68, mein Bruder Holger ging
gerade ein halbes Jahr zur Schule, wurde im Hause Glahe
ein Schwein geschlachtet.
Da der Trichinenbeschauer zwar bestellt, aufgrund der
zahlreichen Schlachtungen im Ort aber noch nicht
angekommen war, überbrückten die älteren
Mitglieder der Familie sowie der Schlachter die
Wartezeit auf selbigen mit einem Schluck aus einer der
im Schnee gut gekühlten 1/2-Liter-Flaschen
Doppelkorn.
Nachdem der Beschauer endlich eingetroffen und die
Trichinenschau recht zügig beendet war, wurde das
Fleisch des Tieres zur weiteren Verarbeitung bzw. zum
Verzehr frei gegeben. Auf die erfolgreiche
Fleischbeschau und in Anbetracht der Kälte leerte
man danach noch mehrmals die Gläser mit dem
hochprozentigen Getränk.
Im Verlauf der bei diesem Anlass üblichen
Gespräche über Fütterung, Fett und
Gewicht des Tieres, forderte der Beschauer meinen knapp
achtjährigen Bruder auf:
"Na Holder, jetzt kannst du ja Wurst machen."
Der vorwitzige Junior, der, wie zu jener Zeit nahezu
jeder Junge im Ort, die Spitznamen fast aller
älteren Männer im Ort kannte, konterte
postwendend:
"Onkel Spritz, ich heiße aber nicht wie Kare
sein Trecker!"
Foto: Angela Ahlborn
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Plötzlicher Besuch
(erzählt von Walter Müller)
In den Nachkriegsjahren, man spricht auch von der
„schlechten Zeit“, hatte niemand
Vorräte an Erfrischungsgetränken oder gar
Flaschenbier zu Haus.
An einem Sonntagvormittag hatte sich im Haus einer
Familie im Unterdorf für die Abendstunden Besuch
aus dem Nachbarort angesagt.
Die Hausfrau schickte daher ihren Mann in das Gasthaus
Krüger, um ein paar Flaschen Bier zu holen, damit
man den Besuch angemessen bewirten konnte.
Weil der Ehemann auch gern einmal einen guten Schluck zu
sich nahm, hatte er, als die Bierflaschen in einem
Beutel verstaut waren, sich zu einer fröhlichen
Runde gesellt. Die Zecher saßen am Tisch direkt
neben dem Kohleofen in der Gaststube, der den Raum gut
beheizte.
Nachdem einige Runden Bier und Schnaps getrunken waren,
wollte der Ehemann wieder nach Hause aufbrechen. Einer
der Zechgenossen fasste in den Ofen und verabschiedete
sich von seinem "Freund", indem er -hinter diesem
stehend- ihm mit der rußverschmierten Hand durch
das Gesicht strich.
Nachdem der Einkäufer endlich zu Haus angekommen
war, wurde er ob seiner Verspätung und des
verschmutzten Gesichtes von seiner Ehefrau zur Rede
gestellt und heftig ausgeschimpft.
Nach einem Blick in den Spiegel kehrte er wutschnaubend
in das Gasthaus zurück, zerbrach einen Stuhl und
verprügelte mit einem Bein desselben den
Zechgenossen, der ihn "geschwärzt" hatte.
Anmerkung:
Diese Tat wurde damals strafrechtlich nicht verfolgt.
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Die beinahe verpasste Beerdigung
(erzählt von Albert Diederich)
Wenn bis Mitte der 1950er Jahre in Hettensen jemand
verstarb, wurde dessen Leichnahm zu Haus aufgebahrt.
Dort fand dann auch die Trauerfeier statt, weil es noch
keine Friedhofskapelle gab. Anschließend wurde der
Sarg mithilfe eines Leichenwagens zum Friedhof gefahren,
wo dann die Beisetzung erfolgte.
Der für diesen Zweck vermutlich von meinem
Großvater Albert Diederich angefertigte Wagen
stand in einem Anbau des Feuerwehr-Gerätehauses,
direkt neben der Handdruckspritze der Wehr. Dieser
Leichenwagen, der von zwei Pferden gezogen wurde, war
schwarz lackiert und mit einem Fries aus silberfarbenen
Kreuzen verziert.
Die Menschen, die aber im Krankenhaus in Göttingen
verstorben waren, wurden erst am Tage der Beisetzung mit
dem speziellen Gefährt von dort geholt.
Als Mitte der 1920er Jahre ein Hettenser Einwohner in
einer der Göttinger Kliniken seiner schweren
Krankheit erlegen war, wurden zwei Männer aus
unserer Ortschaft nach dort geschickt, um die Leiche mit
dem dafür vorgesehenen Wagen nach Hettensen zu
überführen.
Zur festgesetzten Zeit versammelte sich die
Trauergemeinde zur Trauerfeier. Aber es fehlte der Sarg
mit der Leiche. Also wurde jemand in Richtung
Göttingen geschickt, um festzustellen, wo das
Gefährt denn abgeblieben war.
Der Leichenwagen mit den zwei Pferden und dem Sarg stand
vor der Gaststätte Wienecke in Asche. [Heute
besteht dieses Gasthaus nicht mehr; es ist das Wohnhaus
der Familie Sperschneider.]
Nach einem letzten kräftigen Schluck setzten die
stark alkoholisierten Kutscher dann die Fahrt nach
Hettensen fort, wo das Gespann schon ungeduldig erwartet
wurde.
Der Wagen mit Sarg und Leiche kam mit den zwei laut
singenden Männern, die auf dem Sarg saßen, am
Haus des Verstorbenen in Hettensen an, wo dann endlich
die Trauerfeier beginnen konnte.
Anmerkung:
Unsere Friedhofskapelle ist als das zweite Gebäude
dieser Art im Landkreis Northeim in den Jahren 1955/
1956 entstanden. Zu jener Zeit befand sich nur noch in
der Gemeinde Sudheim eine Kapelle.
Trauerfeier im Gasthaus Krüger am 8.7.1939
Foto: Ingeborg Glahe
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Die nicht verkauften Sperlinge
(erzählt von Rainer Glahe)
In den 1960er Jahren herrschte im Ort eine so genannte
Sperlingsplage.
Die Gemeinde Hettensen zahlte daher für jeden beim
Bürgermeister abgelieferten Sperling zehn Pfennige.
Aufgrund der damals noch sehr ruhigen Verkehrssituation
war ein beliebter Ort zum Spielen der Platz „Unter
den Linden“, wo zu jener Zeit noch mehrere
Holzfinnen von Anwohnern direkt an der Schwülme
standen.
Diese Holzlagerstätten eigneten sich hervorragend
als Kulisse für Spiele jeglicher Art, aber auch zum
Verstecken beim Fangen von Sperlingen.
Im Winter 1963 hatten einige Jungen sich einen schweren
Karton besorgt, der mithilfe einer Astgabel schräg
aufgestellt wurde. An der Stütze wurde eine lange
Schnur befestigt, mit der man sich hinter einer der
Holzfinnen versteckte.
Um die Sperlinge anzulocken, hatte die Jungs unter dem
Karton Weizenkörner ausgestreut, welche man sich
auf dem Getreideboden eines der benachbarten Höfe
besorgt hatte.
Wenn nun mehrere Spatzen unter dem Karton saßen
und von den Körnern fraßen, wurde ruckartig
an der Schnur gezogen. Auf diese Art und Weise hatte man
Sperlinge gefangen, die dann (natürlich
getötet) beim Bürgermeister oder dessen
Stellvertreter abzugeben waren. Den Lohn nahm man gern
in Empfang, denn für 10 Pfennige konnte man damals
eine Stange Sahnebonbons kaufen.
Einmal, so ist überliefert, wurden in der
Dämmerung eines recht kalten Wintertages zwei
gefangene Spatzen nicht bei der Gemeindevertretung
abgeliefert.
Vielmehr hatten die Jungen eine ganz besondere Idee.
Am mit Eisblumen überzogenen Küchenfenster
seines Wohnhauses in der Nachbarschaft saß ein
stark kurzsichtiger Rentner. Soweit es in der
Dämmerung ging, beobachtete er die Aktivitäten
der Jungen durch ein kleines Guckloch, das er mit seinem
Atem auf der dünnen Fensterscheibe erzeugt hatte.
Die Jungen bildeten eine Räuberleiter und klopften
bei zunehmender Dunkelheit an das Fenster, hinter dem
der alte Herr saß.
„Unkel moak moal dat Fenster upp!“ rief
einer der Jungen.
Der neugierig gewordene Alte öffnete das Fenster,
staunte zuerst, schimpfte dann aber nicht schlecht, als
zwei Sperlinge an seinem Kopf vorbeiflogen, die danach
in der Küche kreisten...
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